Leipziger Notenspur Leipziger Notenspur Leipziger Notenspur

Die Liste der Komponisten wird laufend ergänzt und erhebt keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

Mykola W. Lyssenko (22.03.1842–06.11.1912)

Mykola Witalijowytsch Lyssenko war ein ukrainischer Komponist, Pianist, Dirigent, Pädagoge, Organologe und Ethnograph. Er studierte am Leipziger Konservatorium.

  1. Lebensstationen
  2. Privates
  3. Verbindung zu Leipzig
  4. Rezeption
  5. Werke
  6. Quellen und Links

1. Lebensstationen

Mykola W. Lyssenko wurde am 22. März 1842 in Hrynky bei Kremenchuk, Gouvernement Poltava (Ost-Ukraine), in eine Familie mit adligen Wurzeln geboren. Während die Mutter volkstümliche Traditionen völlig aus seiner Erziehung heraushalten wollte, war dem Vater die ukrainische Sprache und Bräuche sehr wichtig. Mykola war schon als Kind von den Volksliedern und ukrainischen Traditionen begeistert. Die Mutter erkannte früh das musikalische Talent ihres Sohnes. Im Alter von fünf Jahren begann sie ihren Sohn am Klavier zu unterrichten. Ab dem 10. Lebensjahr besuchte er eine private Lehranstalt in Kiew. In Charkiw setzte er seine Ausbildung am Gymnasium fort. Lyssenko interessierte sich sehr für das Fach Biologie, wollte jedoch das Klavierspielen nicht vernachlässigen. Deshalb nahm er professionellen Unterricht.

Nach Beendigung der gymnasialen Ausbildung 1859 begann Lyssenko ein Biologiestudium an der Universität in Charkiw. Durch politische Umbrüche übersiedelten die Eltern nach Kiew. Dort setzte Lyssenko sein Studium an der Universität fort. Diese Zeit war für seine patriotische Anschauung entscheidend. Die Werke des „Großen Kobzar“ – wie der Dichter Taras Schewtschenko in der Ukraine genannt wurde – begeisterten ihn und viele andere Studenten und regte sie an, sich stärker für die Kultur zu engagieren.

Lyssenko gründete in Kiew einen Studentenchor, den er auch dirigierte. Außerdem wurde er Mitglied einer Theatergruppe, für die er auch komponierte.

1865 beendete Lyssenko das Biologiestudium und verteidigte seine Dissertation. Jedoch wollte er zusätzlich eine professionelle Musikausbildung absolvieren. Unter den europäischen Lehranstalten genoss zu dieser Zeit das Leipziger Konservatorium, gegründet 1843 von Felix Mendelssohn Bartholdy, das größte Ansehen. Hier studierte Lyssenko mit viel Fleiß Klavier, Musiktheorie und Komposition. Bereits im Dezember 1867 erhielt er eine Einladung nach Prag, an einem außergewöhnlichen Konzert slawischer Musik teilzunehmen. Seine Auftritte als Pianist und Komponist erhielten eine hohe öffentliche Wertschätzung. Es entstanden lebenslange Kontakte zu Musikern und Musikkultur anderer slawischer Nationalitäten.

Im Oktober 1869 kehrte Mykola Lyssenko nach Kiew zurück. Dort begann er, seine künstlerischen Ideen, von denen er viele in Leipzig erworben hatte, in Kompositionen umzusetzen. 1879 studierte Lyssenko kurze Zeit bei Nikolai Andrejewitsch Rimski-Korsakow in St. Petersburg, um seine Orchestrierung zu verbessern.

Ein Treffen mit dem berühmten Kobsa-Spieler Ostap Weresaj regte ihn nachhaltig an. So imitierte er in seiner Komposition Dumka-Schumka den Klang dieser ukrainischen Laute. Damit knüpfte er an die jahrhundertalte Tradition blinder Barden (Sänger) an. Lysenko beschäftigte sich auch wissenschaftlich mit der Volksmusik ukrainischer Wandermusikanten. Er wurde und wird als Vater der ukrainischen Nationalmusik verehrt.

1876 wurde von Zar Alexander II. ein Erlass unterschrieben, der die Einfuhr von ukrainischen Büchern, das Singen ukrainischer Lieder in den Schulen sowie ukrainischsprachige Bühnenaufführungen verbot. Deshalb musste Lyssenko zeitweise seine Werke im Ausland veröffentlichen. Es bedurfte viel Mutes, sich der Politik zu widersetzen und entsprechende Rechte einzufordern.

Lyssenko unternahm von 1886 bis 1903 Chor- und Konzertreisen durch die Ukraine. Diese wurden zum Höhepunkt seiner Dirigententätigkeit. Im Jahre 1904 gründete er die „Musikdramatische Schule“ in Kiew. Sie orientierte sich im Lehrangebot am Konservatorium zu Leipzig. Er selbst lehrte Klavier und Tonsatz. Eine weitere musikalische Ausbildungsstätte gründete Lyssenko in Lwiw (Lemberg). Beide Einrichtungen tragen bis heute seinen Namen.

Sein Bekenntnis zur ukrainischen Kultur brachte ihm oft Schikanen ein. Obwohl Lyssenko z. B. ein Lied zur Unterstützung der Russischen Revolution 1905 komponiert hatte, wurde er zwei Jahre später verhaftet.

1908 wurde Lyssenko zum Vorsitzenden des Ukrainischen Klubs gewählt, einer Vereinigung der ukrainischen Nationalpublikationen.

Am 6. November 1912 starb Mykola W. Lyssenko an einem Herzanfall. Mehr als 30.000 Menschen begleiteten den Trauerzug. Er wurde auf dem Baikowe – Friedhof zu Kiew begraben.

Lyssenkos Lebens- und Schaffensweg, der erfüllt war von seiner engagierten Arbeit für die Kultur seines Vaterlandes, verhalf ihm in seiner Heimat zu großer künstlerischer und menschlicher Anerkennung. Heute tragen weitere Musik-und Kulturstätten der Ukraine seinen Namen: z. B. das Opern-und Balletttheater in Charkiw und der Säulensaal der Kiewer National-Philharmonie. Vor dem Opernhaus in Kiew befindet sich ein Denkmal von Mykola W. Lyssenko.

2. Privates

Mit seiner ersten Frau, Olga Olexandriwna (1850–1939), war Mykola W. Lyssenko 12 Jahre verheiratet. Die Ehe blieb kinderlos. Seine zweite Frau, Lypska Olga Antoniwna (1860–1900), Pianistin, ist Mutter seiner sieben Kinder. Zwei der Kinder sind sehr früh verstorben. Seine Frau überlebte die Geburt des siebenten Kindes nicht. Lyssenko heiratete nicht wieder. Lyssenkos Töchter und Söhne schlugen eine musikalische Laufbahn ein.
Der älteste Sohn, Ostap Mykolajowytsch – Musikwissenschaftler und Musikpädagoge – gründete 1947 das Kabinett-Museum seines Vaters „Mykola Lyssenko“, Urenkel Mykola (geb. 1971) ist heute ein anerkannter Dirigent.

3. Verbindung zu Leipzig

Die Stadt Leipzig war im 19. Jahrhundert eine Welt-Musik-Stadt, geprägt durch ihre musikalische Geschichte und Gegenwart von Johann Sebastian Bach, Clara und Robert Schumann bis hin zu Felix Mendelssohn Bartholdy. Die damit verbundenen Traditionen und das reiche und vielseitige Konzertleben in Leipzig machten großen Eindruck auf den Studenten Mykola Lyssenko, als der in die Stadt kam, um am Konservatorium Klavier, Komposition und Tonsatz zu studieren. Alle Lehrer Lyssenkos genossen hohes Ansehen in der Musikwelt. Einige von ihnen arbeiteten seit seiner Gründung am Konservatorium, wie Moscheles, Richter, David, Brendel, Papperitz, Reinecke. Das auf vier Jahre ausgelegte Studium schloss Lyssenko schon nach zwei Jahren ab. Begeistert schrieb er an seine Eltern und Freunde über die Generalproben, die jede Woche für die Gewandhauskonzerte stattfanden. Alle Studenten des Konservatoriums erhielten dafür eine Freikarte. Ein weiterer Höhepunkt für Lyssenko waren die Feierlichkeiten anlässlich des 25. Jahrstages der Gründung des Königlichen Konservatoriums am 2. April 1843. Lyssenko erhielt zu diesen Feierlichkeiten 1868 die Ehrenschleife des Konservatoriums (s. Foto).

Im Sommer 1868 heiratete Lyssenko Olga Olexandriwa. Sie nahm am Konservatorium Gesangsunterricht. Beide zogen von der Nürnberger Straße 16 (Gedenktafel am Haus) in die Erdmannstraße 10 (Plagwitz).

Im März 1869 bestand Lyssenko seine Abschlussprüfung im Fach Klavier mit großem Erfolg. Er spielte Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur mit eigener Kadenz. In mehreren Zeitungen erschienen positive Rezensionen. Die Kritiker seiner Konzerte verglichen Lyssenko mit dem russischen Pianisten und Komponisten Anton Rubinstein (1829–1894).

4. Rezeption

Lyssenko gilt als Begründer der ukrainischen Komponistenschule, ist aber bis heute in Europa fast unbekannt. Sein kulturelles Engagement in der Ukraine war dabei sehr vielseitig und auch stark von seinen Erlebnissen in Leipzig geprägt. Lyssenko sind beispielsweise viele musikethnographische Vorstöße in die ukrainische Volksmusik zu verdanken. Er bearbeitete die erste Sammlung ukrainischer Volkslieder für Solostimme mit Klavierbegleitung. Aus Lwiw stammen viele musikwissenschaftliche Arbeiten über Lyssenko, der dort sehr bekannt war und verehrt wurde. Seine „Chortreffen“, die er als Dirigent auf Reisen durch die Ukraine veranstaltete, waren berühmt und wurden von der Bevölkerung begeistert aufgenommen. Damals wie heute stellte Lyssenko auch auf einer persönlichen Ebene eine Identifikationsfigur für die ukrainische Bevölkerung dar.

5. Werke

Eine gesammelte Ausgabe von Lyssenkos Werken wurde in 70 Bänden zwischen 1950 und 1959 veröffentlicht. Lyssenko komponierte 133 Kunstlieder, u.a. nach Texten von Taras Shevchenko, Lesja Ukrajinka, Ivan Franko, Heinrich Heine. Er arrangierte etwa 500 Volkslieder für Gesang und Klavier. Lyssenkos Kammermusik beinhaltet ein Streichquartett, ein Trio für zwei Violinen und Viola sowie eine Reihe von Werken für Violine und Klavier. Außerdem entstanden 11 Opern, darunter 3 Kinderopern, u.a. Natalka Poltavka, Utoplena, Taras Bulba. Eine Sammlung von Essays über ukrainische Volksinstrumente begründeten seinen Ruf als einer der ersten Organologen im Russischen Reich.

Hörbeispiele

Taras Bulba, Ouvertüre (UA 1924) https://www.youtube.com/watch?v=1JJunawXEb0
2. Ukrainische Rhapsodie op.18, „Dumka-Shumka“ (1877) https://www.youtube.com/watch?v=fHIttYMOkoA

6. Quellen und Links

Jarosevyc, Lubomyra: Mykola Lysenko. Der Begründer der ukrainischen nationalen Komponistenschule zur Zeit der europäischen Spätromantik, in Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa, Heft 10, S. 195, https://www.gko.uni-leipzig.de/fileadmin/user_upload/musikwissenschaft/pdf_allgemein/arbeitsgemeinschaft/heft10/1023_jarosevyc.pdf.
Ruf, Wolfgang (Hrsg.): Riemann Musiklexikon, Mainz 2012.
Sinkewitsch, Jelena: Das Leipziger Konservatorium in den Briefen von M.W. Lyssenko (1867– 1869), in Musikgeschichte in Mittel- und Osteuropa, Heft 10, S. 63, https://www.gko.uni-leipzig.de/fileadmin/user_upload/musikwissenschaft/institut/arbeitsgemeinschaft/musikerbriefe/9_SInkewitschkompl.pdf.
Kalender anlässlich des 175. Geburtstages von M. Lysenko (1842–2017), hrsg. vom Museum der berühmten Persönlichkeiten der Ukrainischen Kultur Kiew mit Unterstützung vom Präsidentenfonds Leonid Kuchma, 2017.
www.editionsilvertrust.com/lysenko-string-quartet.htm

Bild

Mykola Lyssenko als Student, Gemeinfrei, commons.wikimedia.org/w/index.php